„Ich kann einfach nicht einschlafen, egal wieviel Mühe ich mir gebe“, klagt Angela W., eine 49jährige Patientin mit chronischen Einschlafproblemen. Der Therapeut gibt ihr zunächst den wichtigsten Rat: „Versuchen Sie nicht, den Schlaf erzwingen zu wollen – der Vorsatz ‚Ich will schlafen’ funktioniert niemals!“ Und dann kommt ein weiterer Tipp: „Hören Sie für eine halbe Stunde entspannende klassische Musik vor dem Einschlafen, ganz in Ruhe.“ Und tatsächlich: Es dauert nur wenige Wochen bis Angela W. wenigstens einige Male pro Woche wieder problemlos einschlafen kann, ohne alle Medikamente.
Musik war schon in den alten Tempeln der Griechen ein zentraler Bestandteil von Menschenbildung und -heilung. Die moderne Wissenschaft bestätigt die möglichen medizinischen Anwendungsbereiche: Depression, Angsterkrankung, Schlaflosigkeit, chronischer Schmerz, Immunschwäche, Herz-Kreislauferkrankung, streßbedingte Krankheiten. Es ist aber auch Kritik nötig: Wenn Musik so überaus mächtig ist, so viele positive Auswirkungen auf die Geschöpfe hat, könnte die Dauerberieselung mit Musik zu Problemen führen. Denn überall – ob gewollt oder nicht – sind wir mit einer permanenten Musik-Überflutung konfrontiert: In Radio und Fernsehen, Fahrstühlen, Läden, Einkaufszentren, Bahnhöfen, Flughäfen, Toiletten, Autos, Wartezimmern, an Millionen Arbeitsplätzen oder sogar am Pool im Urlaub. Hinzu kommt die oft viel zu laute Musik aus den allgegenwärtigen MP3-Playern.
Wissenschaftliche Untersuchungen zu den Folgen akustischer Überreizung gibt es kaum. Klar ist: Unser Gehör nimmt durch ein Zuviel an lauter Musik nachhaltig Schaden. Klar ist auch, daß Funktionsmusik („Fahrstuhlmusik“, „Toilettenmusik“) funktioniert. Und z. B. Ängste bannt (Fahrstuhl), die Kauflaune hebt (Kaufhaus) oder unerwünschte Menschen vertreibt (Drogenabhängige im Hamburger Hauptbahnhof). Negative Folgen auf die Gesundheit sind bislang kaum bekannt. Ein Beispiel: Funktionsmusik erhöht den Anteil an Abwehr-Eiweißen im Speichel erheblich. Das ist ein eindeutiges Anzeichen, daß wir sie als „fremd“ und „feindlich“ interpretieren, und unser Körper das Abwehrsystem aktiviert, um sie loszuwerden. Ob die Allgegenwart von Funktionsmusik aber auch die Häufigkeit bestimmter Krankheiten erhöht, ist unerforscht. Bekannt ist nur: Funktionsmusik im Alltag lenkt das Bewußtsein wirksam von der Wahrnehmung der Realität ab, macht uns wirklichkeitsblind und läßt uns unkritisch werden.
Musik: Ohne Ruhe keine Heilkraft
Das Wunder der heilenden Wirkungen von Musik geht bei Musik-Dauerberieselung verloren. Moderne Musiktherapie, so erfolgreich sie sein kann, besteht heute zunächst aus dem Ausschalten von MP3-Playern und Umgebungsmusik.
Erst wenn der innere Mensch allmählich zur Ruhe kommt (was alleine schon gesundende Effekte hat!), kann zum Beispiel klassisch-entspannende Musik aus dem eigenen Kulturkreis heilend wirken.
„Aber […] in der Ruhe findest Du dich selbst. Und wenn Du nicht anfängst, Dich selbst zu finden, wie kannst Du anfangen, Gott zu suchen?“
(aus einem Gespräch des Historikers William Dalrymple mit dem Mönch Dioskoros im ägyptischen Kloster Hl. Antonius (in William Dalrymple: From the Holy Mountain – A Journey in the Shadow of Byzantium. Harper Collins, London, 1998.)
Warum Musik eigentlich heilt, kann die Wissenschaft nicht beantworten. Die klassische Antwort aus den Zeiten von Bach und Mozart ist hingegen einfach: Die großen alten Meister verstanden es, die uralten und mächtigen „Schöpfungsharmonien“ in ihrer Musik einzufangen. Hören wir diese mit Hingabe, gelingt uns eine Verbindung mit diesen allgegenwärtigen Lebensrhythmen, die die Grundlage auch unserer biologischen Gesundheit sind („Biorhythmus“). Weil Heavy Metal- oder Techno-Musik nicht diese Urklänge des Lebens zu Gehör bringen, kann sie nicht heilsam sein. Allerdings kann sie, wie auch die älteste aller Funktionsmusik – die Militärmusik –, andere Kräfte in uns wachrufen.
Gut gewählte Musik erreicht jedoch – therapeutisch – weitaus mehr, als Entspannung oder Linderung von Streß alleine. Besonders beim Herz-Kreislaufsystem wird dies deutlich. Im Zentrum der Funktionen von Herz und Kreislauf steht – über die gesamte Lebenszeit hinweg – die rhythmische Bewegung des Blutes durch den Körper. Diese wird beim Hören ruhiger, klassischer Musik normalisiert („harmonisiert“), das ist vielfach untersucht und belegt. Auch unregelmäßige Herzschläge werden besser. Aus urheimischer Sicht ist das Herz das Zentralorgan des menschlichen Fühlens, das Zentrum der Seele. Daß die Harmonisierung rhythmischer Herz-Kreislauffunktionen durch Musik auch zu einer Linderung oder Heilung von seelischen Problemen und Erkrankungen führt, ist also nur folgerichtig.
Die klassische Musik chinesischer Opern wird bei Angela W. übrigens niemals den Schlaf fördern. Vermutlich wird eher das Gegenteil der Fall sein. Dies macht deutlich, daß wir – wie bei unserer täglichen Nahrung oder bei unserer Medizin – auch bei der Musik auf die Herkunft achten sollten. Mit Musik, die uns gut tut, sind wir meist aufgewachsen, sind mit ihr vertraut. Solche „urheimische“ Musik, z. B. lebendige, traditionelle Volksmusik oder die großartigen Klänge von Bach und Mozart sind ein Labsal für unsere Seele. Lassen wir äußere und innere Ruhe zu, um die Welt in uns zu finden und genießen dabei klassische Musik, ist dies nicht zuletzt Ausdruck einer urheimischen Lebensweise, die auch unserer Gesundheit und Lebensqualität zugute kommt.
[de Niet G u.a., J Adv Nurs, 2009; * Charnetski CJ u.a., Percept Mot
Skills, 1998; * Eggemann C u.a., MMW Fortschr Med, 2002.]