Was ist Fortschritt?

Blicken wir ein paar Monate zurück, in die graue Vorzeit der Pandemie: Beherrschende Themen waren der Klimawandel und alles, was damit zusammenhängt. Ob man zweifelt, daß es immer heißer wird, ob man den Klimawandel für natürlich oder menschengemacht hält, ein Gutes hatte Fridays for Future auf jeden Fall: Die Natur und die Auswirkungen des vermeintlichen Fortschritts auf unsere Gesundheit waren einen Moment lang fast allgegenwärtig. Daß ausgerechnet Kinder und Jugendliche dafür sorgen mußten und nicht wir schlauen Erwachsenen, bedarf keines weiteren Kommentars.

Der jugendlich-ungezähmte Elan war ansteckend. Und jetzt? Liegt die Umweltbewegung am Boden. Mit dem Lockdown wurden die Kinder von den Straßen in die Beliebigkeit des Internets und die Natur aus dem öffentlichen Bewußtsein gedrängt. Was für die Gesundheit gut ist, ist verkommen zu den Fragen, wann der Impfstoff kommt, und wie wir unsere Welt auf ein Leben mit dem Virus und seinen Nachfolgern einstellen, die wir in unseren Tierfabriken heranzüchten (für neue Viren brauchen wir keine Asiaten, das schaffen wir selbst [1]).

So lassen wir eine historische Chance ungenutzt vorbeiziehen. Fortschritt 2020 heißt, möglichst schnell alle Schulen umfassend zu digitalisieren, damit Kinder auch in Isolationshaft zu funktionalen Gliedern der Gesellschaft geformt werden können.

Dieser Fortgang offenbart ein fatales Muster, das nicht erst seit der industriellen Revolution menschliches Handeln bestimmt: Neue Techniken und Verfahren werden zunächst bejubelt und finden massenhaft Verbreitung. Im Anschluß bemerkt man die Schäden, die sie hervorrufen, ignoriert sie zuerst und leugnet sie anschließend. ‘Maschinenstürmer‘ werden bekämpft. Später sollen die schlimmsten Folgen mit weiteren Neuerungen behoben werden. Solche Kaskaden von vermeintlichen Verbesserungen und anschließender Schadensbehebung gibt es zuhauf. Aktuelle Beispiele gefällig?

Windkraft soll die Sicherheits- und Dreckprobleme fossiler Brennstoffe lösen. Endlose, saubere Energiereserven, das klingt verlockend. Um die Folgen der Bodenversiegelung beim Bau von Windkraftanlagen, Zufahrtswegen und Stromtrassen, um Grundwasserabsenkungen, Gifte im Betonfundament, Mikroplastik in den Flügeln, um verendete Vögel und Insekten, die erschlagen werden oder auf ihren Umwegen die Orientierung verlieren, erfrieren und verhungern, um Infraschall, um Schädigung der Mikrofauna und um die Gesundheit der Anwohner, verlorene Lebensqualität, um „[h]erabstürzende Flügel“ und „brennende Rotoren“ [2] – darum kümmern wir uns mit neuen Erfindungen.

Wo wird wohl die Computerisierung unserer Schulen hinführen? Noch weniger Bewegung im „Fernunterricht“, noch mehr Bildschirm und Kurzsichtigkeit, noch weniger Natur, noch mehr Elektrosmog, noch weniger Menschlichkeit und noch mehr Anpassung an die Maschinen? Noch weniger natürliche, noch mehr künstliche Intelligenz? Aber wer soll dann die Lösung für die neue Dummheit erfinden?

Ein pessimistischer Fortschrittsfeind bin ich nicht. Aber wenn wir immer wieder das Kind mit dem Bade ausschütten, zweifele ich am gesunden Menschenverstand. Unsere Kreativität könnten wir wunderbar nutzen, würden wir sie nicht verkümmern lassen und ständig zur Schadensabwicklung einsetzen müssen. Wie wäre es, wir würden endlich fortschrittlich agieren statt nur rückwärtsgewandt auf Schäden zu reagieren? Ich fühle mich fortschrittlich ohne Smartphone, Fernsehen, Impfung und selbstverständlich ohne Chemie in meinen urheimischen Produkten. Am fortschrittlichsten fühle ich mich, wenn ich nein sage. Dann spüre ich mein Rückgrat und bekomme keine Rückenschmerzen vom Verbiegen.

Ihr
Dr. Georgios Pandalis

[1] Henritzi, D. et al. (2020). Surveillance of European Domestic Pig Populations Identifies an Emerging Reservoir of Potentially Zoonotic Swine Influenza A Viruses. Cell Host & Microbe. doi: 10.1016/j.chom.2020.07.006.

[2] FAZ 26.08.2020