Die regelmäßige Hauptuntersuchung unseres Autos macht Sinn, denn ungewartete Fahrzeuge gefährden Mensch, Tier und Umwelt, vor allem aber ist sie auch möglich. Technik funktioniert nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Achsenwinkel in Grad, Reifenprofil in Millimetern, Scheinwerferhelligkeit in Lux – bestimmte Richtwerte haben sich im Straßenverkehr bewährt. Aber: Sind wir ein Auto? Da haben unsere Gesundheitsexperten wohl etwas falsch verstanden! Im Gegensatz zum serienmäßig produzierten, materialstandardisierten Automobil ist unser Körper ein höchstindividuelles Konstrukt feinstens aufeinander abgestimmter, biochemischer Prozesse. Jedes Protein entsteht auf Basis eines einzigartigen Genoms unter der Wirkung tausender regulatorischer Faktoren und beeinflußt wiederum tausende weiterer Prozesse.
Dabei unterliegt unser physiologisches Gleichgewicht nicht nur zirkadianen, zirkalunaren und zirkannualen Rhythmen 1), sondern wird zusätzlich von tagtäglichen äußeren Einwirkungen geprägt: Für einen vorübergehend erhöhten Blutdruck sorgt bereits ein leerer Magen wenige Stunden nach der letzten Mahlzeit oder eben einfach das Bangesein vor dem bevorstehenden Arzttermin. Wird deshalb ein Blutdrucksenker verordnet, ist das eine typische Fehlbehandlung. (Ist der Arzt uns allerdings besonders sympathisch, sehen die Werte natürlich schon wieder ganz anders aus…) Auch macht es einen Unterschied, ob wir unterwegs zum Arzttermin durch einen Rosengarten spaziert oder an einem Gülleacker vorbeigefahren sind. Der Vitamin-D- und damit häufig auch der Calcium-Spiegel sind gegen Ende eines dunklen Winters naturgemäß etwas geringer als in sonnenreichen Sommermonaten – kein Grund für eine Supplementierung! Der PSA-Wert, ein Blutwert, mit dem in Reihenuntersuchungen angeblich Prostata-Krebs auffindbar sein soll, erhöht sich schon durch zehnminütiges Fahrradfahren, manuelle Prostatauntersuchungen oder Geschlechtsverkehr. So kommt es zu einer extrem hohen Rate falsch positiver Befunde 2). Nicht zuletzt zeigt schlicht die Körperlage zum Zeitpunkt der Blutabnahme Einfluß auf die Verteilung und damit auf die Konzentration zellulärer Blutbestandteile und das Level bestimmter Hormone.
Unsere in einer Momentaufnahme festgestellten Laborwerte können also schon Stunden später ganz anders aussehen, geschweige denn nach einer Woche oder zu einer anderen Jahreszeit. Dennoch messen ihnen viele Ärzte absolute Bedeutung bei und diagnostizieren vermeintliche Anomalien und Krankheiten. Machen wir uns bewußt, daß eine statistische Normabweichung nicht heilbar ist, weil sie nicht existiert oder schlichtweg irrelevant ist.
Ein hippokratischer Arzt besucht seinen Patienten zu Hause, bezieht Lebensumfeld, Gesichtszüge, Körperhaltung und Bewegungen in seine Anamnese mit ein. Aber innerhalb unseres heutigen Gesundheitssystems können sich Ärzte eine solche Diagnostik nicht mehr leisten. Stattdessen unterstützt ein ganzer Troß von Nutznießern die Umwandlung völlig gesunder Menschen in profitable Patienten. Fachgesellschaften stellen die Standard-Werte, medizinische Labors die Analysen, Ärzte die Diagnosen und Pharmaunternehmen die passenden Präparate 3). Und hier schließt sich der Kreis, indem die Pharmaindustrie Einfluß auf die Fachgesellschaften nimmt.
Ich selbst kenne keinen einzigen meiner Laborwerte, aber ich weiß, wann unser Wagen das nächste Mal zum TÜV muß.
Ihr Dr. G. Pandalis
1) biologische Rhythmen, die dem Tag-Nacht-Wechsel (zirkadian, 24 Stunden), dem Mondzyklus (zirkalunar, etwa 28,5 Tage) bzw. dem Jahreszyklus (zirkannual, etwa 365,25 Tage) folgen
2) siehe auch Gelddruckmaschine PSA-Test, Kurz und Bündig in dieser Ausgabe
3) siehe auch Blutdruckmittel? Alles Käse… Urheimische Notizen 4/2013