„Wir sind das Volk“, so tönt es seit über 2.500 Jahren aus der griechischen Antike, hinein in unser aller Gegenwart. Die Regierung des Volkes, die Demokratie (von griech. Δñμος [dēmos], „Volk“, und κρατία [kratía], „Herrschaft“), deren Verwirklichung seit der Französischen Revolution mehrmals zum Greifen nahe kam, ist bei uns zu einer Scheindemokratie verkommen. Ihr eigentlicher Name ist „Lobbykratie“. Also der Ersatz des nach unserer Verfassung eigentlich vorgesehenen Souveräns – des Volkes – und seines politischen Willens durch die Interessen der Superreichen und Mächtigen und ihrer Schergen, eben den Lobbyisten und ihren Verbänden. Politologen sprechen auch von der „fünften Gewalt“ (neben Legislative, Exekutive, Judikative, Medien).
Wie das funktioniert, haben einige wenige Kritiker in den letzten Jahren berichtet. Der direkte Weg ist personalintensiv, aber einfach und effektiv: Allen entscheidenden Politikern, ob auf Regional-, Länder-, Bundes- oder EU-Ebene, werden von den großen Interessenverbänden Personen zugeordnet, die sog. Lobby- Vertreter (nicht selten sind dies sogar ehemalige Politiker wie z. B. Wolfgang Clement, Roland Koch, Stefan Mappus, Dieter Althaus und viele andere „Seitenwechsler“). Diese versuchen, Entscheidungen „unserer“ Politiker im Interesse ihrer Lobby-Verbände zu beeinflussen. Besonders gut gelingt dies z. B. auf EU-Ebene, weil ein wesentlicher Teil der Gesetzgebung dort nicht durch EU-weit gewählte Politiker, sondern durch von den Regierungen ermächtigte Vertreter erfolgt („EU-Ministerrat“).
Das mangelhafte Demokratie-Verständnis zeigt sich auch daran, daß diese Personen Teil der jeweiligen Regierungen sind. So war es bereits zu Zeiten des absolutistisch regierenden Königs Ludwig XIV („L‘État, c’est moi! – Der Staat bin ich!“): Die Regierenden machen die Gesetze selbst. Zumindest scheinbar, denn die Arbeit der Lobbyisten besteht ja heute gerade daraus, mit Hilfe teurer gemeinsamer Abendessen und vielfältigen anderen „Zuwendungen“ und „Aufmerksamkeiten“, demokratische Gesetzgebung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Einer der elegantesten Wege ist übrigens die „Arbeitserleichterung“. Indem Lobby-Verbände und ihre Juristen-Heerscharen große Teile neuer Gesetze vorformulieren, verringert sich der Arbeitsaufwand für Politiker erheblich. Je nach Gesetzeslage wird dies in manchen Ländern auch ganz einfach als Korruption bezeichnet (die in Deutschland strafrechtlich – eigentlich – verboten ist).
Als Alternative zum direkten Weg der Politiker-Bestechung hat sich der indirekte Weg unter Einsatz der Medien („vierte Gewalt“) herausgestellt. Entweder mit Hilfe willfähriger Verlegerinnen oder der von ihnen gegründeten Propaganda- Stiftungen. Von dort aus wird dann mittels moderner Massen-Propaganda, also einer geschickten Mischung aus Lügen und Wahrheiten, die öffentliche Meinung manipuliert. Für sie negative Änderungen der öffentlichen Meinung scheuen Politiker jedoch wie der Teufel das Weihwasser. In aller Regel werden sie dann gerne das Fähnchen „ein wenig“ in Richtung der von den Lobby-Organisationen gewünschten Marschrichtung drehen. Wie gut dies funktioniert, zeigt die von den Urheimische Notizen immer wieder kritisierte „Medien-Gleichschaltung“ bei relevanten Themen (z. B. zur Schweinegrippe). Oder derzeit beispielsweise bei der Berichterstattung und Kommentierung von Ereignissen in Syrien, Libyen oder Griechenland, deren Wahrheitsgehalt oft unüberprüfbar, deren wirtschaftlicher Interessenshintergrund jedoch unverkennbar ist (z. B. Waffenexporte, Erdöl, Bankeninteressen).
Der bundesdeutsche Gesundheitsmarkt, in dem etwa 300 Milliarden Euro pro Jahr verschoben werden und an dem noch weitere lukrative Bereiche des Sozialsystems dranhängen, steht traditionell im Fokus der Lobbykratie. Einige wenige Beispiele für Lobbyismus:
• Am 8. Mai 2012 kehrte die bisherige Vorsitzende der europäischen Lebensmittelbehörde EFSA, Diána Bánáti, der obersten Verbraucherschutz- Einrichtung der EU den Rücken zu. Schon am 2. Juli 2012 avancierte sie zur Exekutiv- und Wissenschaftsdirektorin ihres alten Arbeitgebers, des International Life Sciences Institute (ILSI). ILSI ist eine der wichtigsten Lobby-Gruppen der Ernährungsindustrie und betreibt u. a. Lobbying für die Gentechnik-Industrie.
> Eine Vielzahl führender EFSA-Mitglieder stammt direkt aus der Lebensmittel-Großindustrie („EU-Lebensmittelbehörde unter Lobbyverdacht“). Ein Skandal, den das Europa-Parlament kürzlich harsch kritisierte und der den Haushalt der Behörde nicht entlastete. Erschreckend: Im Bereich gentechnisch manipulierte Agrarprodukte ist die Nähe der EFSA-Experten zur Industrie besonders groß.
• Die ehemalige Gesundheitsministerin in NRW, ehemalige Vorstandsvorsitzende der Barmer Ersatzkasse/GEK und SPD-Politikerin, Birgit Fischer (SPD), wurde am 1. Mai 2011 neue Hauptgeschäftsführerin des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller (VfA), also zur „Chef- Lobbyistin“ der Pharmaindustrie („Forschung ist die beste Medizin“).
> „Cheflobbyistin der unkeuschen Abzocker“, nennen selbst Standesfunktionäre Fischer hinter vorgehaltener Hand. Die frühere Kritikerin der Pharmaindustrie kritisiert jetzt zum Beispiel, daß Arzneimittel für seltene Erkrankungen keine positive Nutzenbewertung erhalten. Und verschweigt dabei, daß diese Präparateklasse milliardenschweren, „innovativen“, aber oft unsinnigen Krebsmitteln den Weg bereitet. Sowohl der VfA als auch seine Konkurrenz, der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) und der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH), versuchen kontinuierlich die Pharma-Gesetzgebung in Deutschland und Europa zu beeinflussen. Zum Beispiel durch eigene Mitarbeiter, die in Beratungsgremien des Bundesgesundheitsministeriums sitzen. Oder durch eigene, vorformulierte Gesetzestexte, die später in die Gesetzgebung einfließen. Eine intransparente Praxis, die bis heute verfassungsrechtlich fragwürdig ist.
• Der ehemalige „oberste Gesundheits-Verbraucherschützer“ beim Bundesverband der Verbraucherzentralen, Stefan Etgeton, ist am 1. August 2011 zum „Senior Expert“ für Gesundheitspolitik bei der Bertelsmann Stiftung (Stiftungsaussage: „Wir sind keine heimliche Regierung!“) aufgestiegen. Die über 600 Millionen Euro starke Stiftung schlägt weitreichende Umbauten des Gesundheitssystems vor, nicht zuletzt auch im Bereich Prävention.
> Etgeton gehört zu der neuen Klasse von Gesundheitsbürokraten, die ohne Qualifikation für irgendeinen gesundheitlichen Beruf (er ist Diplomtheologe und Kulturwissenschaftler!), immer weitreichender das Gesundheitssystem im Interesse ihrer Lobbys manipulieren. Etgeton fordert beispielsweise von chronisch Kranken, ganz im neoliberalen Sinn, eine „gesteigerte Therapietreue“, um so eine „höhere Arbeitsproduktivität“ zu erreichen („der kalte Wind der Selbstverantwortung“).
Dieser kleine Einblick in Verstrickungen von Lobbyisten, Multimilliardären und öffentlichem Interesse läßt sich endlos fortsetzen. Gemäß dem Motto „Jeder ist käuflich“ wird deutlich, daß der Milliardenmarkt Gesundheitswesen unendliche Begehrlichkeiten weckt. Und diese wollen befriedigt werden. Am besten übrigens dadurch, daß übliche kapitalistische Mechanismen eingesetzt werden. Also „Profitmaximierung“, wovon z. B. viele „blutig“, also vorzeitig entlassene Krankenhaus-Patienten ein Lied singen können. Und „Kosten-Maximierung“, wovon in Deutschland Kassen- und Privatpatienten gleichermaßen betroffen sind.
Die Betonung von Prävention bei den Programmen vieler Gesundheits-Lobbyisten sollte übrigens nicht als wirklich „gesundheitspflegendes“ Angebot an freie Bürger mißverstanden werden. Prävention ist vielmehr die Fortsetzung alter Wunschträume von „Volksgesundheit“ mit anderen Mitteln. Diese führt durch eine Spirale von Über-Diagnostik und daraus folgender Über-Therapie in völlige Abhängigkeit vom medikoindustriellen Komplex (und dessen Aktieninhabern). Dies endet, wie die deutsche Geschichte mehrfach schmerzlich gezeigt hat, in einer Zwangsmedizin, bei der sich fundamentale Bürgerrechte – Lobbykratie sei Dank! – endgültig in Luft auflösen.