Ein Blick in die Geschichte zeigt, daß Stillen trotzdem nicht selbstverständlich ist. So gab es immer wieder Entwicklungen, die Mütter zu Alternativen greifen ließen. Die im 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung zum Beispiel brachte es mit sich, daß vielen Frauen keine Zeit zum Stillen blieb. Besonders Mütter aus der Unterschicht hätten nicht die Zeit gehabt und seien auch nicht in der körperlichen Verfassung gewesen, ihre Kinder zu stillen, berichtet Manfred Vasold, Autor eines in der „Naturwissenschaftlichen Rundschau“ erschienenen Beitrags zum Thema Säuglingssterblichkeit [4]. Heute tragen auch die PR-Kampagnen der Hersteller von künstlicher Säuglingsmilch ihren Teil dazu bei, daß Stillen nicht für jede Frau infrage kommt. Die Folgen können gravierend sein. So mußten vor einigen Jahren in China eine Reihe von Kleinkindern stationär behandelt werden, nachdem sie mit Milchpulver gefüttert worden waren, das die giftige Chemikalie Melamin enthielt [5]. Auch einige Todesfälle wurden seinerzeit verzeichnet. Die künstlichen Ersatzprodukte werden zwar in der Regel streng kontrolliert, mit der natürlichen Muttermilch können sie es aber trotzdem nicht aufnehmen (siehe Kasten).
In früheren Zeiten waren es vor allem hygienische Probleme (verseuchtes Wasser, verkeimte Kuhmilch), die dazu führten, daß die Säuglingssterblichkeit relativ hoch war. Vor 1800 starb fast ein Drittel der Neugeborenen im ersten Lebensjahr; nur die Hälfte aller Kleinkinder erreichte den fünften Geburtstag. Der Grazer Arzt Theodor Escherich (1857 – 1911), bekannt für seine Forschung an Darmbakterien (Escherichiacoli- Bakterien), fand nach Beobachtung seines Patientenstamms heraus, daß vor allem die mit Flaschenmilch aufgezogenen Kinder gefährdet waren [4]. Bis zu zehnmal höher, so der Mediziner, sei die Sterblichkeit der Flaschenkinder im Vergleich zu Säuglingen, die mit Muttermilch großgezogen wurden. Hauptgrund für die oft lebensbedrohlichen Erkrankungen der mit Flaschenmilch ernährten Kinder waren Infektionen im Verdauungsbereich.
Heute wird in Deutschland zwar ein Großteil (knapp 70 Prozent) der Kinder nach der Geburt gestillt, einige Monate später sinkt die Stillrate jedoch auf unter 40 Prozent. Das paßt in das weltweite Bild, nach dem laut einer 2023 in der Zeitschrift „Lancet“ veröffentlichten Studie weniger als die Hälfte der Kinder und Kleinkinder weltweit ausreichend lange Muttermilch erhalten [6].
Ausreichend lange heißt etwa aus Sicht der WHO, Säuglinge im ersten halben Jahr ausschließlich zu stillen und bis zum zweiten Lebensjahr Beikost und Muttermilch zu kombinieren. Denn Muttermilch hält auch mit der Entwicklung und dem Hunger des Kindes Schritt. So ist die Milch beispielsweise zu Beginn des Stillens dünnflüssiger, um den Durst des Säuglings schnell zu befriedigen; gegen Ende wird sie gehaltvoller, weil dann die Sättigung im Vordergrund steht. Daß Muttermilch aufgrund der enthaltenen Immunglobuline auch bei kleineren Wehwehchen wie Hautverletzungen helfen kann, stimmt. Der Tip, Säuglinge und Kleinkindern bei Erkältungen Muttermilch in die Nase zu träufeln, ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Muttermilch ist ziemlich klebrig und damit eine Gefahr für die Flimmerhärchen (Zilien) in der Nase. Die Empfehlung „Finger weg von der Nase“ (https://www.pandalis.de/aktuell/detail/ nasensprays-nein-danke/) sollten wir also auch in diesem Fall beherzigen.
Statt dessen gibt es andere Möglichkeiten, um Säuglinge und Kleinkinder bei Erkrankungen der Atemwege zu unterstützen. Daß unsere Kleinen viel häufiger als Erwachsene unter Atemwegsinfektionen leiden, liegt nicht nur daran, daß das Immunsystem erst lernen muß. Auch physiologisch gibt es zwischen Erwachsenen und Kleinkindern Unterschiede. So ist zum Beispiel die Mundatmung bei Säuglingen noch nicht so effektiv, wodurch ein Schnupfen die Atmung stärker beeinträchtigt. Dazu kommt, daß Neugeborene und Kleinkinder einen höheren Grundumsatz haben und damit auch in Ruhe mehr Sauerstoff verbrauchen. Bezogen auf das Körpergewicht ist der Grundumsatz zwei- bis dreimal so hoch wie bei Erwachsenen. Muß der Organismus den Sauerstoffkonsum in Folge einer Erkrankung erhöhen, steht deshalb eine geringere respiratorische Reserve zur Verfügung. Außerdem tragen bei Säuglingen die kleinen Atemwege proportional mehr zum gesamten Atemwiderstand bei, was sich bei Erkrankungen wie einer Bronchiolitis in deutlichen Symptomen äußert. Erst ab dem ersten Lebensjahr kann der Brustkorb die Atmung so wie beim Erwachsenen unterstützen.