„Kulturelle Glanzleistungen“ der deutschen Kultusminister sind: Die neue Rechtschreibreform und die in vagen Ansätzen formulierte Bildungsreform und die jetzt massive Streiks hervorrufende Hochschulreform mit ihren zu verkrüppelten Abschlüssen (Bachelor, Master) führenden Studiengängen („Bologna-Prozess“). Anders als von manchen linken Bildungspolitikern gerne kritisiert, entsprechen diese „Reformen“ aber nicht den Wünschen der „bösen Industrie“. Vielmehr handelt es sich um Resultate einer gleichmacherischen Gesellschafts- Ideologie, bei der das Individuum wenig, der „Standard-Mensch“ viel zählt. Der Krümmungsgrad der Banane ist entscheidend, nicht die Qualität – ebenso bei der Bildung. Anstatt umfassende Bildungszieleanzustreben („Humboldtsches Bildungsideal“), wird die massenhafte Anhäufung von sinnlosen Wissensbruchstücken zur Leitschnur.
So haben die traditionellen Gesellschaften Ostasiens bis heute große Probleme damit, ihr Bildungssystem den Erfordernissen der Moderne anzupassen. Einfach deshalb, weil nur der Umgang mit den hochkomplexen Schriftsystemen den Zugang zur Bildung erlaubt. Wer erst jahrzehntelang Zeichen lernen muß, damit er die Inhalte begreifen kann, wird in seinem Zugang zu Bildungsinhalten nachhaltig behindert. Dies wußten auch die Schriftreformer Ostasiens, die im vergangenen Jahrhundert ihre Wortzeichen-Schriften entweder aufgaben oder stark vereinfachten. Bei uns passiert das Gegenteil: Wissensbruchstücke aus beliebigen Gebieten werden in kindliche und jugendliche Gehirne gepreßt, ohne Zusammenhang der Fachgebiete und tieferes Verständnis. Heraus kommen „Informations-Junkies“, wie Kritiker sie nennen. Bei den Pisa-Studien oder „Wer wird Millionär?“ darf dann dieses Partikularwissen gegen Belohnung abgesondert werden.
„Die Schule ist zum Prinzip des Tauschhandels zurückgekehrt. Deutsch kann durch Sport ausgeglichen werden und Mathematik durch Religion. Punkte in Leistungskursen zählen doppelt soviel wie die in gewöhnlichen Kursen. Das hat die Schule zu einem Markt gemacht, auf dem Zensuren gehandelt werden und die Schüler mit den Lehrern um Prozentpunkte feilschen. Daß alles mit allem kombinierbar, alles austauschbar und alles kompensierbar ist, hat die große Beliebigkeit … inthronisiert.“
Dietrich Schwanitz: Bildung. Alles was man wissen muß. Eichborn, Frankfurt am Main 1999.
Die Resultate solcher Gleichschaltungs-Bildungspolitik sind offenbar. Für die Opfer gilt nicht „Information ist Macht“, sondern Ohnmacht und politische Manipulation. Die Arbeitgeber sind entsetzt über Lehrlinge oder Studenten, denen häufig wesentliche Bildungsgrundlagen für das Leben fehlen. Wahre Bildung entwickelt sich erst durch Eigenarbeit, wenn allmählich ein ganzes Bild der Wirklichkeit entsteht und zu Erkenntnis und Weisheit wird. Daß aus Bildungsbürgern Informationsbürger werden, die immer mehr Zeit in Computernetzwelten verbringen, betrifft alle. Die geistigen Fließband-Arbeiter, die Info-Nomaden eines Bachelor-Studiums bringen uns nichts, wenn verantwortungsbewußter oder individueller Umgang mit der Welt gefragt ist. Großartige Ärzte oder Künstler wie Hippokrates, Paracelsus oder den Dichterarzt Schiller wird es bei einer so einseitigen, anti-freiheitlichen Schul- und Universitätsbildung nie geben. Einem Arzt, der sein antrainiertes Wissen in der angeblichen „Schlacht um Leben und Tod“ wie aus einem Maschinengewehr abgibt, werden wir uns kaum guten Gewissens anvertrauen wollen. Entscheidendes fehlt nämlich. Insofern gehen die Bemühungen der AOK zur Bewertung von Ärzten durch Patienten in die richtige Richtung. Funktionieren kann dies aber nur, wenn zu einer Allgemeinbildung der Mediziner auch soziale Fähigkeiten wie Einfühlsamkeit und Verantwortung kommen.
Daß der Gegensatz zwischen Bildung und Informationsanhäufung in der Medizin existiert, weiß auch die urheimische Philosophie. Werden zum Beispiel pflanzliche Wirkstoffe aus ihrem natürlichen, ganzheitlichen Zusammenhang gerissen, mögen sie beeindruckende Einzelleistungen vorweisen. Doch bald zeigt sich, daß die Nebenwirkungen und Komplikationen dieser isolierten Chemikalien stärker werden als die erwünschten Wirkungen. Aus dem Heilmittel wird dann ein Gift.